Schwerbehindert! Selbstständig!

Im Jahr 2005: Diplom Betriebswirt (FH) – alle Voraussetzungen für einen erfolgreichen Start ins Berufsleben waren optimal.


Die Kombination aus einem erfolgreich abgeschlossenen Studium und einer Ausbildung zum Steuerfachangestellten sollte die Grundlage meiner beruflichen Laufbahn sein - bis heute ist sie mein Alleinstellungsmerkmal.

Jedoch kam ich mit einer Dysmelie an beiden Händen und dem linken Fuß zur Welt, was eine angeborene Fehlbildung einer oder mehrerer Gliedmaßen bedeutet. Dank der hervorragenden medizinischen Versorgung, die ich bereits in meiner frühesten Kindheit erhielt, ist meine Behinderung zwar offensichtlich, jedoch beeinträchtigt sie mich nicht bei der erfolgreichen Ausübung meines Berufs. Selten stoße ich in meinem Privatleben an Grenzen, und selbst wenn doch, kann ich durch den Einsatz von Hilfsmitteln stets positiv damit umgehen.

Wie ergibt sich nun der Zusammenhang zwischen Behinderung, Berufsleben und der Entscheidung, selbstständig zu werden?

In den 1990er Jahren befand ich mich auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Während des Bewerbungsprozesses wurde mir mehr als einmal mitgeteilt, dass ich aufgrund meiner Hände entweder für den Kundenkontakt ungeeignet sei oder die erforderlichen Tätigkeiten nicht ausführen könne. Diese Bewertungen wurden von den jeweiligen Entscheidungsträgern ohne angemessenes Fachwissen und Kompetenz hinsichtlich meiner Behinderung getroffen. Dass man damals so unverblümt darüber sprach, scheint in der heutigen Zeit undenkbar.

Die Besitzerin einer angesehenen Steuerkanzlei hat meine schulischen Leistungen gewürdigt und nach einem ausführlichen Gespräch mit meinen Eltern - bei dem wir darüber sprachen, ob ich den Anforderungen aufgrund meiner Behinderung gewachsen wäre - mir eine Ausbildung zum Steuerfachangestellten angeboten. Nachdem ich diese Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hatte, entschied ich mich dafür, die Fachhochschulreife zu erlangen, um anschließend ein Studium der Betriebswirtschaftslehre aufzunehmen.

Nach erfolgreichem Abschluss des Studiums begann ich erneut damit, nach einer Arbeitsstelle zu suchen. Trotz meiner exzellenten Qualifikation und Bewerbungsunterlagen erhielt ich weiterhin nur Absagen, und das immer nach persönlichen Vorstellungsgesprächen. War es ein Zufall? Nein, denn es wiederholte sich, dass die sichtbare Fehlbildung an meinen Händen, meine Kompetenz und Eignung für die jeweilige Position überlagerte.

Frustriert bat ich schließlich meine ehemalige Chefin aus der Steuerkanzlei um Unterstützung. Der Zufall wollte es, dass sie mir ein Vorstellungsgespräch bei einem ihrer Mandanten vermitteln konnte. Mit der Empfehlung meiner früheren Chefin wurde ich eingestellt.

Letztendlich verbrachte ich mehr als 18 Jahre in diesem Unternehmen. Während dieser Zeit erlebte ich häufig Momente der Frustration. Oft fand ich mich in dem Gedanken wieder, dass es an der Zeit war, das Unternehmen zu verlassen und mich neuen Herausforderungen zu stellen. In dieser Phase schrieb ich unzählige Bewerbungen, führte Gespräche mit Personalberatungsunternehmen und suchte aktiv nach neuen beruflichen Möglichkeiten. Leider waren meine Bemühungen stets ohne Erfolg.

Bestmögliche Passung zu den Anforderungen der Stellenausschreibung, von Experten erstellen Bewerbungsunterlagen inklusive ansprechendes und aufs jeweilige Unternehmen abgestimmte Anschreiben: Trotzdem scheiterte ich immer wieder am persönlichen Bewerbungsgespräch.

Ich befand mich in einer äußerst unangenehmen Situation: Ich musste eine Arbeit ausüben, für die ich längst überqualifiziert war und in einem Unternehmen, in dem ich weder eine Perspektive noch den Wunsch hatte, weiterzuarbeiten. Dies führte bei mir zu großer Frustration. Ich hatte alles versucht und alle möglichen Optionen ausgeschöpft.

Im vergangenen Jahr hatte ich mich auf eine Stelle beworben, die ideal zu meiner Qualifikation, Arbeitsweise und Berufserfahrung passte. Das erste Bewerbungsgespräch wurde online durchgeführt, wodurch meine offensichtliche Behinderung nicht bemerkbar war. Das Gespräch verlief äußerst positiv und ich wurde zu einem persönlichen Treffen in das Unternehmen eingeladen. Auch dieses Gespräch war sehr vielversprechend. Jedoch erhielt ich kurze Zeit später eine Absage.

Es reicht! In diesem Moment fällte ich eine Entscheidung, die alles verändert: Ich werde mein eigener Chef.

Am 31.01.2024 war mein letzter Arbeitstag in dem Unternehmen, dem ich über 18 Jahre lang angehört hatte.

Jetzt beginnt für mich ein neues, spannendes und herausforderndes Kapitel. Ich gründe meine eigene Unternehmensberatung, die sich auf die digitale Transformation und die Optimierung von Buchhaltungsprozessen spezialisiert.

Als ich meinem siebenjährigen Sohn erklärte, warum ich mich entschieden hatte, mein eigener Chef zu werden, um nie wieder wegen meiner Behinderung abgelehnt zu werden, antwortete er: "Papa, das ist eine klasse Idee."